Ayaan Hirsi Ali hat der
Autorenzeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur, dem Schweizer Monat, ein
Interview gegeben, das an Popper angelehnt den Titel “Die Feinde der offenen
Gesellschaft” trägt. Darin befürchtet sie, dass sich Europa überschätzt. Hier
ein Auszug:
Hirsi Ali:
Hirsi Ali:
… Das ist meine Kritik an
europäischen Gesellschaften: Europäer sind sich zu wenig bewusst, dass die
Freiheit erkämpft werden musste und noch immer muss. Selbstzufriedenheit und
Gleichgültigkeit dominieren. Es gibt diese Wahrnehmung, unbesiegbar zu sein — als
könne hier in Europa nichts Schlimmes passieren oder falsch laufen. In Europa
leben 700 Millionen Menschen. Zum Vergleich: in den muslimischen Ländern leben
1,7 Milliarden Menschen. Europa ist eine Minderheit. Dessen ungeachtet halten
die Europäer ihre bürgerlichen Freiheiten für selbstverständlich, nehmen sie
als gegeben hin und vergessen: was gegeben wurde, kann auch wieder genommen
werden.
Monat:
Sie malen düster. Die
Tatsache, dass wir hier ein solches Gespräch führen und Ihre Kritik am politischen
Islam publizieren können, zeigt doch, dass die Korrekturmechanismen der offenen
Gesellschaft funktionieren…
Hirsi Ali:
… aber diese werden auch von
jenen benutzt, die diese Art von Gesellschaft in Frage stellen. Karl Popper
sprach von den «Feinden der offenen Gesellschaft». Der Feind ist heute in Form
einer totalitären Doktrin präsent: islamischer Totalitarismus, politischer
Islam, radikaler Islam — nennen Sie das Phänomen, wie Sie wollen. Europa ist
der ideale Nährboden für den neuen Totalitarismus. Paradoxer-weise machen es
Errungenschaften einer offenen Gesellschaft wie Versammlungs- und
Meinungsfreiheit den Extremisten leicht, freiheitsfeindliche Botschaften von
Gewalt und Unterdrückung zu verbreiten. Sie nutzen die Rhetorik der Freiheit, um
die Freiheit abzuschaffen. Ich kenne die Dschihad-Literatur und die
Publikationen der Muslimbruderschaft. Sie machen mir Angst.
Monat:
Für die meisten Europäer
klingen diese Botschaften absurd, Wen sollen sie erreichen?
Hirsi Ali:
Die Islamisten haben es auf
eine klare Zielgruppe abgesehen: heimatlose Immigranten, Menschen in
Gefängnissen, Eiferer. Und die Europäer schauen zu. Ich sehe kein
konkurrierendes Narrativ, mit dem die Europäer diese Menschen
konfrontieren. Ich frage
mich: haben die Europäer ihre Geschichte vergessen? 1945, nach dem Ende des
Nationalsozialismus, riefen die Europäer zahlreiche Institutionen ins Leben, um
neue Formen des Totalitarismus zu verhindern. Sie veränderten das
Bildungswesen, machten Aufklärungskampagnen. Und heute? In bezug auf den
radikalen Islam geschieht nichts dergleichen. Man schaut lieber weg.
Monat:
Sie sind bekannt dafür, den
Islam heftig zu kritisieren. Nicht alle teilen Ihre Einschätzung der Lage.
Hirsi Ali:
Das erwarte ich auch nicht.
Was ich erwarte, ist eine offene Debatte über den neuen Totalitarismus — nicht
bloss eine akademische Diskussion. Die entscheidende Frage ist doch: Was ist
uns die Freiheit in Europa denn wert? Vergleichen Sie die Einstellung von
Osteuropäern mit jener von Westeuropäern. Osteuropäer fortgeschrittenen Alters
sind viel leidenschaftlicher, wenn es um Freiheit geht, weil sie den
Sozialismus noch am eigenen Leibe erfahren haben. Umgekehrt steht der
Sozialismus bei vielen westeuropäischen Intellektuellen und Politikern immer
noch hoch im Kurs. Ebenso ist es mit dem Islam. Wer ihn nicht wirklich
kennengelernt hat, versteht ihn nicht.
Monat:
«Totalitarismus» ist ein
grosses Wort. Und zugleich ein interpretationsbedürftiges. Inwiefern genau hat
der radikale Islam totalitäre Züge?
Hirsi Ali:
Sein Ziel ist die Errichtung
eines totalitären islamischen Staats, eines Weltkalifats mit der islamischen
Religion als Quelle der Gesetzgebung.
Monat:
Wollen Sie damit sagen, dass
alle, die sich zum Islam bekennen, ein solches theokratisches Regine anstreben?
Hirsi Ali:
Nein. Aber ich halte die von
vielen Europäern in Unkenntnis der Lage übernommene Trennung zwischen den
vielen guten Muslimen und den wenigen bösen Islamisten für falsch. Was ich
sage, ist: der Islam als politische Ideologie trägt klar totalitäre Züge, im
Popperschen Sinne einer kollektivistischen Ideologie, für die das Individuum
als solches keinen Wert, keine Würde hat. Das sollten wir zur Kenntnis nehmen…
Quelle: