29.08.2013 · Adonis,
Jahrgang 1930, gilt als bedeutendster arabischer Dichter der Gegenwart. Seit
vielen Jahren lebt er in Paris im Exil. Die Lage in seinem Heimatland beurteilt
er äußerst kritisch.
Quelle: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/gespraech-mit-dem-syrischen-dichter-adonis-syrien-ist-von-innen-und-aussen-umzingelt-12550579.html
Zum Beginn des arabischen Frühlings haben Sie gesagt: „Ich kann nicht an einer Revolution teilnehmen, die in einer Moschee beginnt. Das hat nichts mit Freiheit und Demokratie zu tun.“ Warum dieser Pessimismus?
Das ist kein Pessimismus, das ist die Realität. Es gibt
keine Demokratie, wenn das politische System auf einer religiösen Basis
aufgebaut ist. Entweder sind wir demokratisch und leben in Freiheit, oder wir
sind religiös. Ich wähle die erste Variante - demokratisch und frei zu sein.
Das heißt aber nicht, dass ich gegen Religion bin. Vor dem individuellen
Glauben, den ein Mensch aus eigener Überzeugung praktiziert, habe ich großen
Respekt. Aber wenn uns Religion als Institution führt, dann ist das Tyrannei.
Und zwar aus dem Grund, dass es auch Menschen gibt, die nicht religiös sind
oder einer anderen Religion zugehören. Eine Gesellschaft, die religiöse Gesetze
zur Grundlage hat, ist für mich eine Diktatur. Sie ist vielleicht sogar
schlimmer als eine Militärdiktatur.
Was ist der Unterschied zwischen einer Militär- und einer religiösen Diktatur?
Eine Militärdiktatur kontrolliert deinen Kopf und deine
politischen Gedanken. Das ist schlimm genug. Doch die religiöse Diktatur
kontrolliert deinen Kopf, dein Herz, deine Seele und deinen Körper, also dein
ganzes Leben. Zweifelsfrei - beide sind undemokratisch.
Heißt das, Religionen sind undemokratisch, sobald sie
politische und staatliche Macht ausüben?
Mehr als das. Sie sind nicht nur undemokratisch, sondern
schlichtweg ungerecht. Religionen drängen allen Gruppierungen einer
Gesellschaft die gleichen Pflichten auf, räumen ihnen aber nicht die gleichen
Rechte ein. Warum zum Beispiel darf nach islamischem Recht ein Muslim eine
Christin heiraten, ein Christ hingegen keine Muslima, ohne Muslim zu werden?
Warum darf ein Muslim in islamisch geprägten und regierten Ländern wichtige
Minister- und andere Posten annehmen und der Christ nicht? Dieses Recht
genießen in bestimmten Ländern ausschließlich Muslime. Hier haben wir es mit
einer Vergewaltigung, ja Hinrichtung von Bürgerrechten zu tun. Wenn politische
Macht einzig auf Religion basiert und die Gesellschaft im Namen der Religion
regiert wird, werden Zivilrechte außer Kraft gesetzt. Muslime behaupten, der
Islam sei der Garant für Freiheit. Die Religion gewährleistet keine Freiheit
und garantiert sie auch nicht und zwar für niemanden - ohne Ausnahme! Nur die
Menschenrechtserklärung darf sich das anmaßen, und nur eine Verfassung darf
meine Freiheit gewährleisten. Demokratie in der arabischen Gesellschaft können
wir nur auf der Basis ziviler, säkularer Staatsgewalten, auf der Grundlage der
bürgerrechtlichen Gleichheit und des Laizismus erreichen.
Liegt also im Laizismus die Lösung?
Selbstverständlich. Ohne den Laizismus kann man keine
moderne Gesellschaft bilden. Wenn es unser Ziel ist, eine freie und
demokratische „arabische“ Gesellschaft zu errichten, müssen Minderheiten jeder
Art und Andersdenkende bedingungslose Akzeptanz erfahren. Nur so gestalten wir
eine fortschrittliche und weltoffene Gesellschaft. Der Laizismus richtet sich
nicht gegen den individuellen Glauben. Der einzelne Mensch hat das Recht auf
Religiosität; das ist eine individuelle Freiheit. In der Demokratie muss die
Freiheit des Einzelnen respektiert werden.
Ist die heutige arabische Gesellschaft mit dem Laizismus
kompatibel?
Leider nein. Aber das ist die Realität.
Warum konnten die arabische Gesellschaft und der Laizismus
bisher nicht in Einklang gebracht werden?
Weil diese Gesellschaften noch die Sprache des Kalifats sprechen
und das Prinzip der Eroberungen noch existiert. Schon allein die
Herangehensweise, eine Gesellschaft heute immer noch unter dem Gesichtspunkt
der Religion in Mehrheit und Minderheiten aufzuteilen, bestätigt ihre
undemokratischen Strukturen.
Hat die arabische Gesellschaft in ihrer Geschichte je eine
Demokratie erlebt?
Nein. Wir Araber drehen uns seit 1500 Jahren im Kreis. Unser
Hauptanliegen in diesen fünfzehn Jahrhunderten ist es, politische Macht zu
erlangen, ohne die gesellschaftlichen Veränderungen in Richtung Fortschritt zu
berücksichtigen. Es geht um ein Austauschen von Machtpersonen an oberster
Stelle und nicht um Veränderungen im Wesentlichen. Niemand versucht, die
Gesellschaft zu verändern. Niemand sucht nach Wegen, um die Entwicklungen in der
Kultur und in der Gesellschaft zu verbessern. Niemand sucht nach Möglichkeiten,
wie man aus dem arabischen einen modernen Menschen machen kann.
Ist der sogenannte arabische Frühling nicht der Anfang einer
Demokratisierung der Gesellschaft?
Eventuell könnten wir durch den Wandel eine Regierung
bekommen, die weniger brutal wäre als das vorherige Regime oder bloß ein
geringeres Übel darstellen würde. Deswegen betone ich, dass es keine Demokratie
geben kann mit einem System, das auf Religion basiert.
Die syrische Opposition fordert Freiheit und Demokratie.
Einige unter ihnen bringen die Idee der Zivilgesellschaft in ihren Debatten
ein. Könnte das nicht der Baustein sein, auf dem sich eine zivile moderne
Gesellschaft gründen lässt?
Dieses Gerede, das in der arabischen Gesellschaft in Umlauf
ist, hat keine Bedeutung. Die neuen Befreier haben bis jetzt in ihren
politischen Programmen den Begriff „Laizismus“ nicht einmal erwähnt. Was ist
das für eine Revolution, die Angst vor einem einzigen Wort hat?
In einer Erklärung der syrischen Muslim-Bruderschaft hieß
es, die Wahlurnen würden entscheiden, wer das Land auf demokratischer Basis
regieren wird. Wie glaubwürdig ist das?
Gar nicht. Würden sie akzeptieren, dass ein Christ in Syrien
Präsident wird? Würden sie in Ägypten einen Kopten als Präsidenten akzeptieren?
Nein, weil in ihren Köpfen immer noch das Dogma vorherrscht, die Gesellschaft
in religiöse Mehrheit und Minderheiten zu teilen.
Aber in der Demokratie darf sich jede Partei zur Wahl
stellen.
Ich bin für freie Wahlen, und ich respektiere die
Demokratie. Meine Stimme werde ich abgeben, aber natürlich gegen die
Muslim-Bruderschaft. Ich bin strikt gegen ihre Einflussnahme in der Politik.
Leider sind in einigen Fällen demokratische Wahlen keine Lösung, weil auch eine
Mehrheit tyrannisch sein kann, auch wenn sie durch freie Wahlen politische
Macht errungen hat, siehe Hitler.
Wo stehen die syrischen Christen und andere religiöse
Gruppen in der Revolution? Ihnen wird unterstellt, Unterstützer des
Assad-Regimes zu sein.
Ich bin gegen diese Behauptungen. Außerdem, wenn sie an der
Revolution teilnehmen sollten, dann doch als Bürger des Landes und nicht als
Christen. Aber die Verantwortung dafür liegt auch im Verhalten der Beteiligten
selbst, seien es Christen, Alawiten, Drusen oder andere. Gerade sie sollten
diese Aufteilung in beispielsweise muslimische und christliche Revolutionäre
ablehnen. Die Christen sollten im Nationalrat oder in der Nationalen Koalition
als Repräsentanten des syrischen Volkes und nicht als Vertreter der Christen in
Erscheinung treten. Die Aufforderung, sich als religiöse Minderheit an der
Revolution zu beteiligen, ist doch schon - de facto - eine Diskriminierung.
Haben arabische Intellektuelle beim Umbruch überhaupt eine
Rolle gespielt?
Natürlich. Das, was in Syrien und in den anderen arabischen
Ländern geschieht, ist durch Ideen, durch Wünsche und Vorstellungen eines
besseren Lebens entstanden. Diese Ideen sprießen doch nicht plötzlich aus dem
Nichts. Viele arabische Schriftsteller und Intellektuelle haben sich für
Freiheit und Demokratie ausgesprochen. Ihnen ist zu verdanken, dass überhaupt
eine politisch motivierte Bewegung ihren Lauf genommen hat.
Warum sind Sie nicht auf der Seite der Revolution?
Wie kann ich auf der Seite der heutigen Revolution sein? Die
Frage ist doch, was hat sie für ein politisches Programm? Anfangs verlief die
Revolution für Freiheit und Demokratie friedlich. Heute ist sie voller Gewalt.
Sie ist eine bewaffnete Revolte geworden. Viele Söldner aus den unterschiedlichsten
islamischen Ländern befinden sich in den Reihen der Revolutionäre. Qatar,
Saudi-Arabien und Amerika bewaffnen sie. Dies ist keine Revolution. Sie besteht
bloß aus einzelnen rebellischen Gruppen, die nur das Regime stürzen wollen. Wie
kann ich so etwas unterstützen?
Welche Rolle spielt der Westen in der syrischen Krise?
Der Westen verhält sich in dieser Angelegenheit geradezu wie
ein Unwissender. Obwohl es ihm an Experten und Beratern nicht mangelt, tragen
diese nicht unbedingt zur Aufklärung bei. Sie liefern oberflächliche
Informationen. Ich spreche hier vom Bereich Politik. Viele westliche
Intellektuelle sind politisch gut informiert, doch treffen sie keine
politischen Entscheidungen. Außerdem begegnet der Westen den Arabern und dem
Islam - überwiegend in politischen, aber auch in kulturellen Fragen - nicht
gerade mit Respekt. Heute befindet sich der Westen in einer wirtschaftlichen
Krise. Und der größte Teil der arabischen Welt ist reich. Also wird der Westen
alles daransetzen, um seine wirtschaftlichen Probleme zu lösen, auch wenn er
damit gegen seine kulturellen Errungenschaften, demokratische Prinzipien und
Menschenrechte verstößt.
Eine politische Lösung ist bis jetzt nicht erreicht worden.
Warum?
Es gibt sowohl externe als auch interne Kräfte, die eine
politische Lösung ablehnen. Deshalb eskaliert die Gewalt im Land. Die Ersten,
die eine politische Lösung ablehnen, sind die Revolutionäre selbst. Sie werden
mit Geldern mancher Staaten unterstützt, die kein Interesse daran haben, die
Gewalt in Syrien zu beenden. Manche externe Kräfte möchten, dass die syrische
Gesellschaft zerstört und das Land durch die Erschöpfung seiner menschlichen
und wirtschaftlichen Ressourcen geschwächt wird. Einige Staaten fordern sogar
ein militärisches Eingreifen in Syrien, um es zu schwächen. Denn nur ein
schwaches und geteiltes Land kann keine Vorbedingungen am Verhandlungstisch
stellen. Es muss akzeptieren, was andere vorschreiben.
Heißt das, es besteht die Option, Syrien in mehrere Länder
aufzuteilen?
Alles ist möglich. Das hängt von der Rolle der Weltmächte in
Syrien ab.
Einige westliche Länder drohen der Führung mit militärischem
Eingreifen.
Ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird. Syrien ist ein
kompliziertes Gefüge: Saudi-Arabien, Qatar und die Türkei möchten unter dem
Vorwand eines moderaten Islam die Länder von Marokko bis Pakistan unter
sunnitische Herrschaft bringen. So würde eine neue einheitliche Zone, die sich
vom Mittelmeer über den Kaukasus bis zur russischen Grenze erstreckt,
entstehen. Dies hat einerseits eine Isolation Russlands zur Folge, andererseits
verhindert es schiitische Einflüsse. Außerdem könnten Muslime in Russland
instrumentalisiert werden. Dasselbe gilt auch für Muslime in China. Abgesehen
davon, verteidigen Russland und China eigene Interessen in Syrien. Deswegen ist
der Konflikt so kompliziert. An Syrien grenzen die Türkei, das Mittelmeer, der
Libanon, Israel, Jordanien und der Irak. Man gelangt unmittelbar in die
kurdischen Gebiete. Auch Saudi-Arabien, die Golfstaaten, Iran in Richtung
Zentralasien, Ägypten in Richtung Afrika und Zypern und Griechenland in
Richtung Europa sind nicht weit. Sollte es zu einem militärischen Eingreifen
kommen, würde Syrien möglicherweise in die Hände der Dschihadisten fallen. Die
Herrschenden würden Einfluss auf das gesamte Gebiet nehmen. Möchte der Westen
das wirklich in Kauf nehmen? Ich glaube nicht.