Dienstag, 1. März 2011

Der Einkauf

Nun war es aber höchste Eisenbahn.
Es galt Geschenke zu kaufen für das alljährliche Weihnachtsfest. Frau Edeltraud Trost aus Ebersberg – fünfunddreißig Jahre alt – Mutter zweier Kinder machte sich deshalb in ihrem blauen Mercedes Coupe auf den Weg in die Landeshauptstadt München. Frau Trost war eine auffallend sportliche Erscheinung. Sie trug an diesem grauen Dezembertag eine braune Wildlederjacke, Jeans sowie schwarze Wildlederstiefel. Sie war eine überaus hübsche Frau mit schwarzem schulterlangem Haar.


Dieser Samstag war ein bewölkter und nasskalter Tag. Der leichte Nieselregen ging mittlerweile in Schneeregen über. Sie schaltete die Intervallschaltung des Scheibenwischers ein.
Die Landschaft links und rechts der B12 sah doch tatsächlich so aus, als hätte sie jemand über Nacht mit Puderzucker überzogen. Bäume und Sträucher waren mit elfenbeinfarbigem Raureif bedeckt.

Sie schaltete den CD Player ein. Die vertrauten Klänge von Hansi Hinterseer ertönten und verströmten augenblicklich ihrer Bestimmung gemäß ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit. Als Nächstes warf sie einen Blick auf das Armaturenbrett. Sie fuhr exakt achtzig Stundenkilometer. Wie üblich war sie aber wieder zu spät dran, was ein zweiter Blick auf die Zeituhr eindeutig belegte. Eigentlich wollte sie an diesem Samstag bereits um zehn Uhr in München sein. Mittlerweile war es aber bereits gegen Mittag. Es kam ihr aber trotzdem nicht in den Sinn schneller zu fahren, als die auf diesem Streckenabschnitt erlaubte Geschwindigkeit von eben achtzig Stundenkilometern. Plötzlich bemerkte sie aber im Rückspiegel wie jemand verdammt nah auffuhr und zudem auch noch mit der Lichthupe drängelte. Ein klarer Fall von Nötigung.

Frau Trost war aber eine zu routinierte Fahrerin, als dass sie dieses verkehrsgefährdende Verhalten von diesem wahnsinnigen Verkehrsteilnehmer tatsächlich beunruhigt hätte. Der Drängler nutzte alsbald die nächste Lücke im Gegenverkehr, um sie endlich überholen zu können. Während des Überholvorgangs, etwa auf gleicher Höhe, tippte er mit dem Zeigefinger an seine rechte Schläfenseite. Gleichzeitig drückte er kräftig auf die Hupe. Auf dieser Strecke ging es meistens so ab. Nichts Neues. Nicht umsonst hatte die B12 laut Statistik die höchste Unfallrate zu verzeichnen. Nachdem Hansi Hinterseer aus gesungen hatte schaltete sich wieder das Radio ein.

Sie hörte eine weibliche Stimme sagen Weihnachten wäre mittlerweile vielerorts zu stark von Kitsch, Konsumterror und Harmoniezwang bestimmt. Die Frau die so sprach war keine geringere als die Landesbischöfin von Hannover. Gut gebrüllt dachte Frau Trost. Sie selbst war da allerdings völlig anderer Meinung. Sie freute sich einfach auf das Fest. Und zwar jedes Jahr wieder aufs Neue. Ja, sie liebte Weihnachten förmlich. Erst recht den Kitsch wie auch den ganzen Konsum oder besagte Harmonie.

Das war wieder so eine typische Aussage von diesen Intellektuellen, die auch in jeder Suppe noch ein Haar finden würden. Frechheit. Deshalb schmiss sie den CD Player wieder an und Hansi Hinterseer hüllte sie erneut in eine schmusig wabernde Klangwolke.
In München angekommen stand sie natürlich erstmal im Stau. Der Verkehr quälte sich die Einsteinstraße einwärts während sie in Gedanken versunken noch einmal den gestrigen Tag Revue passieren ließ.
Ihr Mann hatte etwas von einer Krawatte oder einem Rasierapparat gemurmelt. Markus, der Sohnemann hatte durchblicken lassen, dass er dieses Jahr gegen eine neue Uhr absolut nichts einzuwenden hätte. Das Töchterlein mit seinen zwei Jahren war naturgemäß noch zu klein, um schon mit Weihnachtswünschen auf sich aufmerksam machen zu können. Frau Trost wusste schon, was sie zu tun hatte, um ihre Liebsten, wie jedes Jahr aufs Neue zufrieden zu stellen.

Nachdem sie den Wagen wie immer in der öffentlichen Tiefgarage am Max Josephplatz abgestellt hatte betrat sie den Aufzug und fuhr nach oben. Anschließend überquerte sie den monumentalen Platz mit dem imposanten Denkmal des ehemaligen bayerischen Königs.
Auf dem vor Nässe sich spiegelnden Straßenbelag lagen mehrere Pferdeäpfel verstreut. Vermutlich von der berittenen Münchner Polizei, bei der auch ihr Mann seit mittlerweile zwölf Jahren als Leiter der Pferdestaffel seinen Dienst versah.

An der Radfurt, die mit roter Farbe gekennzeichnet war, blieb sie für einen Moment stehen, um erstmal einen Blick nach links und rechts zu werfen. Plötzlich kam Wind auf. Der Nieselregen nahm zu. Sie sah sich deshalb genötigt ihren Schirm aufzuspannen.
Nachdem es ihr gelungen war die rot gekennzeichnete Radfurt unfallfrei zu überqueren kam sie gegenüber der Münchner Traditionsgaststätte Franziskaner an einem kleinen Geschäft vorbei in dessen Auslage wunderschöne Krawatten zu besichtigen waren. Über der Eingangstüre war in goldenen Lettern der Schriftzug >>Feine Krawatten<< angebracht.

Sie betrat das Geschäft und kaufte schließlich mit gutem Gefühl zwei Exemplare zu je achtzig Euro das Stück. Nachdem Sie das edle Geschäft wieder verlassen hatte - wo sie äußerst höflich und zuvorkommend bedient worden war - ging sie weiter in Richtung Theatiner Straße um dort schließlich die Passage der - Fünf Höfe - zu betreten. Die kalte Architektur übte auf sie keinen besonderen Reiz aus oder anders gesagt, es gefiel ihr überhaupt nicht.

Sie durchschritt die Passage bis sie zu einem überdachten Innenhof gelangte. Dort entdeckte sie ein kleines Cafe. Einem spontanen Entschluss folgend trat sie ein und nahm an einem der kleinen runden Tische Platz. Vor dem Shopping sollte man ja schließlich immer etwas im Magen haben.
Das Cafe verfügte über den zweifelhaften Charme der sechziger Jahre, was jetzt anscheinend wieder in Mode war. An den weiß gestrichenen Wänden hingen ausdrucksvolle abstrakte Gemälde. Was sie darstellten war nicht zu erkennen, aber das spielte keine Rolle. Mit ihren leuchtenden Grundfarben und den breiten kraftvollen Pinselstrichen wirkten sie auf den Betrachter wie visuelles Koffein. Frau Trost fand diese Art der Einrichtung allerdings abgrundtief grässlich. Nachdem sie beim Ober bestellt hatte kramte sie ihr Handy hervor, um zu Hause anzurufen. Es ging jedoch niemand ran.

Sie blickte um sich. Zu ihrer linken Seite am Nebentisch saß ein junges Pärchen, welches sich unentwegt verliebt anlächelte und gleichzeitig an den heißen Getränken schlürfte. Vorne, ihr gegenüber an der Bar saßen einige Leute, welche teilweise recht gekünstelt, ja beinahe wie aus der Reklame wirkten.
An dem Tisch rechts von ihr saß ein alter Mann im grauen Trenchcoat. Er trug einen schwarzen Hut auf dem Kopf. Vor ihm auf dem Tisch lag ein kleines schwarzes Büchlein mit Goldrand, wie sie eher beiläufig bemerkte. Der Kellner kam herbei und stellte die gewünschte heiße Schokolade auf den Tisch. Sie bezahlte gleich die Rechnung, da sie nicht vor hatte länger als nötig zu bleiben.

Schließlich hatte sie ja noch einige Einkäufe zu tätigen. Nachdem sie die leckere Schokolade ausgetrunken hatte stand sie vielleicht etwas zu hektisch auf, um sich auf den Weg zu machen. Dabei geschah es.
Sie stieß unabsichtlich gegen den Tisch zu ihrer rechten Seite. Der Mann mit Hut und Trenchcoat schien jedoch nicht zu reagieren.
Frau Trost sagte trotzdem höflich wie sie nun mal war so etwas wie: "Oh… tut mir aber Leid. Entschuldigen Sie bitte". Daraufhin hob der Mann seinen Kopf.

Das aschfahle Gesicht eines alten Mannes mit hohen Wangenknochen starrte sie an. Instinktiv spürte sie sofort, dass dies kein Mensch sein konnte. Seine Augen leuchteten im Orangerot von Flammen, wie sie für gewöhnlich in einem Holzofen leuchten. Auch hatten diese Augen weder Iris noch eine Pupille. Und erst recht keine weißen Augenäpfel. Seine Augen waren vollständig orangerot - ein Orangerot das waberte und flackerte.
An seinen langen grässlichen Fingern in denen er jetzt das kleine Büchlein mit goldenem Rand hielt waren keine Fingernägel zu sehen sondern lange gelbe Krallen. Der Mann richtete seinen brennenden Blick auf sie und zog gleichzeitig seine schmalen Lippen zu einem Kannibalenlächeln zurück. Dabei entblößte er zwei Reihen winziger scharfer Zähne, die auch einem Haifisch alle Ehre gemacht hätten.
In seltsam heiseren Tonfall antwortete der grauenhafte Mann:
"Keine Ursache. Alles in bester Ordnung".

Der Geruch der dabei seinem Mund entströmte roch stark nach Schwefel. Es loderte darin und winzige Fünkchen stoben heraus.
Dieser Mann stand innerlich in Flammen. Ohne jeden Zweifel. Seine Augen glichen kleinen Gucklöchern mit Glimmereinsatz, die man manchmal in Ofentüren sieht. Frau Trost erstarrte zur Salzsäule. Plötzlich hörte sie einen dumpfen Ton und ein unmelodisches Klingeln. Ihr Schlüsselbund war ihr aus der erschlaffenden Hand gefallen und genau zwischen ihren Füßen auf den Steinboden gelandet. Als sie sich automatisch danach bückte, um die Schlüssel wieder aufzuheben, bemerkte sie mit Entsetzen, dass dieser Mann einen behaarten mächtigen Pferdefuß hatte. Noch dazu mit einem goldenem Hufeisen. Es war sein Fuß da gab es keinen Zweifel.

Urplötzlich stieß Frau Trost nun einen gellenden Schrei aus und rannte voller Entsetzen aus dem Cafe wobei sie noch eine ältere Dame umrannte. Alle Anwesenden blickten ihr aufgeschreckt hinterher und anschließend auf den Mann im Trenchcoat. Mittlerweile hatte dieser aber seinen Hut wieder tief ins Gesicht gezogen und las in seinem Büchlein mit Goldrand.
"Verrückte Leute", sagte der Kellner, welcher Frau Trost zuvor bedient hatte zu einem seiner Kollegen. "Verstehst du das…?"
"Nein…keine Ahnung“, entgegnete dieser teilnahmslos.

Frau Trost indes rannte in Panik hinaus auf die Straße, wo sie das nasse Kopfsteinpflaster erwartete. Sie stürzte und beinahe wäre sie um ein Haar von der Stadt auswärts fahrenden Straßenbahn überrollt worden. Doch einem aufmerksamen Passanten, einem jungen Mann, war es gerade noch rechtzeitig gelungen sie im allerletzten Moment zurück zu reißen. Die Ärmste war völlig aufgelöst und total von der Rolle. Mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen starrte sie Hilfe suchend umher. Der junge Mann der ihr vermutlich das Leben gerettet hatte beugte sich zu ihr hinab:
"Ist ihnen schlecht… soll ich einen Krankenwagen rufen?"
Sie blickte in ein Paar neugierige und zugleich besorgte Augen.
"Kommen sie stehen sie auf ich helfe ihnen".
Als sie wieder auf den eigenen Beinen stand stammelte sie noch immer unter Schock stehend:
"Danke... es geht schon wieder. Vielen Dank!" Anschließend rannte sie weiter zur Tiefgarage am Max Joseph Platz. Ihr Haar hing in wirren Strähnen herab und ihr Gesicht war immer noch seltsam verzerrt, als sie schließlich den Aufzug zur Tiefgarage betrat.

Als sie wieder in ihrem Wagen saß fühlte sie sich schon etwas besser. So reagieren also Menschen, wenn sie mit etwas konfrontiert werden, dass sich jeglicher rationalen Erklärung entzieht, schoss es ihr durch den Kopf. Vor ihrer Heirat hatte sie nämlich mal ein einige Semester Psychologie studiert.
Das musste der Teufel höchst persönlich gewesen sein, schoss es ihr wieder durch den Kopf, auch wenn es völlig aberwitzig schien. Wie sollte sie dieses Erlebnis auch anders deuten.
Auch ein Joke kam nicht in Frage. Versteckte Kamera oder dergleichen. Dieser Typ hatte wirklich gebrannt. Sie hatte es ja mit eigenen Augen gesehen. Und dann dieser entsetzliche haarige Pferdefuß und dieser widerliche Gestank.

Als Nächstes fuhr sie die Prinzregenten Straße Stadt auswärts. Sie konnte es einfach nicht fassen was da eben passiert war. Also versuchte sie ihre Gedanken erneut zu ordnen. Doch sie wusste einfach nicht wie sie dieses grauenhafte Erlebnis einordnen sollte. Es entzog sich jeglicher Vernunft. Normalerweise war sie ja kein Hasenfuß, aber diese grauenhafte Type war einfach zu viel gewesen. Sie hatte den Eindruck als verblute sie innerlich an einer geplatzten Ader im Kopf. Sie wusste allerdings sehr genau, dass sie nicht verrückt war.
Frau Trost war eine äußerst rational denkende Frau mit einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein, das normalerweise nicht leicht aus der Ruhe zu bringen war. Und dieses Büchlein, welches er in seinen grässlichen Krallen gehalten hatte. Was hatte es damit auf sich?

Wütendes Hupen hinter ihr holte sie unvermittelt wieder in die Realität des Straßenverkehrs zurück. Als sie endlich wieder auf die B12 einbog, war ihr schon wieder um einiges wohler. Sie schaltete den CD-Player ein und Hansi Hinterseer zog sie erneut mit samtener Männerstimme in eines seiner Herzschmerzlieder. In zwanzig Minuten würde sie wieder Zuhause sein.
Doch irgendwie schaffte es Hansi Hinterseer dieses Mal nicht Frau Trost erneut in seinen Bann zu ziehen. Spontan drückte sie auf die Stopptaste. Zu groß war der Kontrast zwischen dem Schrecklichen was ihr gerade widerfahren war und dieser Art von Kuschelmusik. Das passte einfach nicht zusammen, ja es machte die Sache sogar noch schlimmer. Sie begann leicht zu frösteln obwohl die Heizung tadellos funktionierte.
Dazu überkam sie plötzlich das merkwürdige Gefühl als säße sie nicht allein in ihrem Auto. Als Folge davon begann ihr Herz plötzlich unkontrolliert zu rasen, wie ein Pferd unter der Peitsche. Dennoch wagte sie nicht sich um zu drehen. Zudem bemerkte sie plötzlich wieder diesen äußerst widerlichen Schwefelgeruch.

Ihre Hände begannen erneut zu zittern. Plötzlich spürte sie deutlich wie eine nackte brutale Scheissangst in ihr hoch kam, und sich wie eine eiserne Schlinge um ihren Hals zu legen schien.
Nein… das konnte nicht sein… war der etwa hier? Hier in ihrem Auto?
Saß er etwa im Fond des Wagens… ?
Obwohl sie plötzlich deutlich spürte, dass da noch jemand im Wagen saß, wagte sie nicht sich um zu drehen. Aber zwei Sekunden später bemerkte sie ein seltsames Flackern im Rückspiegel. Als sie hinein blickte starrten ihr zwei rote glühende Kohlen entgegen. Ein Blick aus einer anderen grauenhaften Welt. Vor Schreck hätte sie beinahe das weiße Lederlenkrad verrissen. Mit eiserner Anspannung gelang es ihr aber gerade noch das zu verhindern. Im nächsten Moment hörte sie eine schwere heisere Stimme, welche mit einer geradezu gnadenlosen Endgültigkeit sprach:

"Es ist soweit Edeltraud…. deine Zeit ist abgelaufen…“ Dann spürte sie wie etwas Heißes, Kratzendes von hinten nach ihrem Hals griff.
Das konnten nur seine dreckigen gelben Krallen sein.
In grenzenloser Panik und gleichzeitig aus Leibeskräften schreiend verriss sie schließlich das Steuer des Wagens. Sie krachte mit weit aufgerissenen Augen in denen sich das blanke Entsetzen spiegelte frontal und völlig ungebremst in einen entgegenkommenden Sattelschlepper.

Der am Unfallort eintreffenden Berufsfeuerwehr bot sich ein Bild des alltäglichen Grauens. Der blaue Mercedes war bis zur Hälfte unter die schwere Zugmaschine geraten, sodass nur noch der hintere Teil des Fahrzeuges unter dem massiven Führerhaus herausragte. Frau Trost war sofort tot. Sie wurde regelrecht geköpft.
Ein junger Feuerwehrmann allerdings machte folgende Entdeckung. Auf der rechten hinteren Seite der weißen ledernen Rücksitzbank war deutlich der verkohlten Abdruck einer menschlichen Gestalt zu erkennen. Seltsamerweise konnte aber keine weitere Leiche am Unfallort sichergestellt werden. Im Polizeibericht hieß es lapidar: PKW aus ungeklärter Ursache von der Fahrbahn abgekommen.