Erschienen in: „Süddeutsche Zeitung“ am 13. November 2008
Von Cathrin Kahlweit
Wenn junge muslimische Mädchen Opfer von Missbrauch durch
Angehörige werden, sind sie besonders wehrlos. Egal, welcher Art von Gewalt sie
ausgesetzt sind, sie wagen es kaum, Hilfe zu suchen. Denn nichts erscheint
verwerflicher, als die Schande aus der Familie hinauszutragen
München – Wenn sie sich abends aus ihrem weißen Kittel
schält, ihren fünf türkischen Sprechstundenhilfen guten Abend wünscht und
hinaustritt auf die heruntergekommene Einkaufsmeile des Großstadtvororts, in
dem ihre Praxis liegt, dann überkommt sie eine zähe, würgende Erschöpfung. Sie
mag nichts mehr essen, obwohl sie den ganzen Tag kaum gegessen hat, mag nur
noch nach Hause aufs Land, zur eigenen Familie. Denn jeden Abend zählt Selmin Kundrun
mit müdem Geist die Wunden und Narben, die sie gesehen hat, geht noch einmal
seelische und körperliche Leiden durch, die ihre Patienten in ihre Praxis
tragen. Der Grund ihres Kummers: „Mehr als 50 Prozent der türkischen Frauen,
die zu mir in Behandlung kommen”, sagt die Allgemeinärztin, „haben Gewalt
erlebt. Und fast alle Kinder auch.”