Donnerstag, 30. Mai 2013

Die letzten Zeilen von Sophie Scholl

Geschrieben am 16. Februar 1943, zwei Tage vor ihrer Verhaftung in München, an ihren Freund Fritz Hartnagel.

„Mein lieber Fritz! Gestern habe ich einen wunderbaren blühenden Stock gekauft, er steht vor mir auf dem Schreibtisch am hellen Fenster, seine graziösen Ranken, über und über mit zarten lila Blüten besetzt, schweben vor mir und über mir. Er ist meinen Augen und meinen Herzen eine rechte Freude, und ich wünsche mir nur, dass Du kommst, bevor er verblüht ist. Wann wirst Du nur kommen?“

Am 22. Februar antwortet Hartnagel: „Meine liebe Sophie! Ich danke Dir sehr, dass Du mir so fleißig schreibst, trotzdem Du anscheinend immer noch keine Post von mir erhalten hast. Du tust mir soviel Gutes damit. Wieder hat mich heute ein Gruß erreicht, von dem mir als Erstes zarte, lilarote Blütenblätter in den Schoß fielen. Und wie ich dann Deinen Brief in den Händen halte, und dazu die Sonne schon ganz warm durchs Fenster hereinstrahlt, muß da nicht der Frühling bei mir einkehren? Oder zumindest eine Vorahnung und eine starke Hoffnung auf seine Nähe? Und wenn ich nicht zu früh oder ohne jeden Urlaub wieder an die Front geschickt werde, dann werden wir ihn sogar gemeinsam erleben dürfen.“

Der 22. Februar 1943 ist jedoch der Todestag von Sophie Scholl. Gegen 17 Uhr betritt sie die Hinrichtungsstätte des Gefängnisses München-Stadelheim. Außer ihr befinden sich noch sieben Männer in dem Raum: der Reichsanwalt, ein Vertreter der Gefängnisleitung, ferner ein Arzt, der Gefängnispfarrer und der Scharfrichter mit seinen beiden Gehilfen. Noch verhüllt ein schwarzer Vorhang die Guillotine. Aber es vergehen nur wenige Sekunden, bis die Schergen des Henkers alles für den gewaltsamen Tod der Studentin vorbereitet haben. Gefasst und ohne jede Gegenwehr lässt Sophie Scholl sich auf ein Liegebrett schnallen, das waagerecht unter das Fallbeil geschoben wird. Die Männer starren ihren schmalen Körper an, als das Fallbeil aus der Verankerung gelöst wird und ihr den Kopf abtrennt. Das kurze Leben der Widerstandskämpferin Sophie Scholl ist damit zu Ende. Auf die gleiche Weise sterben ihr Bruder Hans Scholl und Christoph Probst, die ebenfalls vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt worden sind. Die Zerschlagung der Münchner Widerstandsgruppe „Die Weiße Rose“ hat begonnen.


Fritz Hartnagel liegt zu diesem Zeitpunkt in einem Lazarett in Lemberg, der ehemaligen galizischen Gebietshauptstadt im Westen der heutigen Ukraine. Im Krankenhaus sind dem aus Ulm stammenden Hauptmann zuvor zwei Finger der linken Hand amputiert worden. Die rechte Hand und seine Füße, an denen sich Hartnagel im Kessel von Stalingrad ebenfalls schwere Erfrierungen zugezogen hat, können gerettet werden. Vom Schicksal seiner Freundin erfährt F. Hartnagel zunächst nichts. Im Kriegsjahr 1943 sind Briefe, sofern sie überhaupt ankommen, manchmal viele Wochen unterwegs.

Doch Ende Februar erhält er in Lemberg einen Brief von Magdalena Scholl, der Mutter von Hans und Sophie Scholl. Darin erfährt er vom Todesurteil gegen die Geschwister Scholl, nicht jedoch von der anschließenden Hinrichtung. Die Mutter bittet ihn, als Stalingradkämpfer für ihre beiden Kinder so schnell wie möglich ein Gnadengesuch beim Volksgerichtshof in Berlin einzureichen. Auch wenn sie nur noch wenig Hoffnung für ihre Kinder sieht, will sie nichts unversucht lassen, die Vollstreckung der Todesurteile hinauszuzögern.

Fritz Hartnagel bespricht sich mit seinem Arzt im Lazarett, der Verständnis für seine Situation zeigt. Hals über Kopf wird er entlassen, obwohl die Wunden an seiner linken Hand noch längst nicht verheilt sind. Mit der Bahn macht er sich auf den Weg nach Berlin. Kaum in der Reichshauptstadt angekommen, ruft er in der Wohnung der Familie Scholl in Ulm an, die ihm durch viele Besuche vertraut ist. Sophies jüngster Bruder Werner, der ebenfalls als Soldat an der Ostfront dient und sich auf Heimaturlaub befindet, meldet sich. Von ihm erfährt Hartnagel schließlich, dass Sophie, ihr Bruder Hans und ihr gemeinsamer Studienfreund Christoph Probst bereits hingerichtet worden sind. Für Fritz Hartnagel, der dem Kessel von Stalingrad gerade wie durch ein Wunder entkommen ist, bricht eine Welt zusammen.

Gnadengesuch von F. Hartnagel